Demonstration gegen konterrevolutionäre Aktivitäten |
Nach über zwei Jahren pandemiebedingter Abwesenheit betrat ich im Dezember 2021 wieder kubanischen Boden. Natürlich war ich gespannt, ob ich ein verändertes Kuba vorfinden würde. Und tatsächlich wirkte das Land und seine Leute anders als vorher: Ruhiger, kühler, nachdenklicher. Im Nachhinein kam mir der Gedanke, dass ein Reisender, der Deutschland noch aus dem Jahr 2019 kennt, bei der Ankunft in Frankfurt oder sonstwo eine ähnliche Befremdung hätte empfinden können.
Dabei ist das Erleben der Pandemie in Kuba ein anderes als in Deutschland. Alles scheint überschaubarer, erkennbarer: Wer aus dem Haus geht, hat eine Maske zu tragen, das ist die einfache und ohne viel Kopfzerbrechen umzusetzende Maßnahme. Die Menschen gehen zum Impftermin mit der gleichen Aufregung, als würden sie Brot kaufen. Tatsächlich muss man für Brot erheblich länger anstehen als für eine Impfung mit Abdala, und das Auftreten von Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten ist beim ersten eher wahrscheinlicher als beim letzten.
Natürlich ist auch in Kuba die Pandemie kein Pappenstiel. In Camagüey berichteten mir die Freunde von den heißen Sommermonaten mit Stromabschaltungen und ohne Strand- und Kulturangebote. Viele junge Leute in Camagüey hätten dem Endspiel um die Fussball-Europameisterschaft als dem kulturellen Highlight des Jahres entgegengefiebert. In den Wochen zuvor hatten die Stromausfälle zugenommen, insbesondere in den Tagen vor dem Endspiel, welches am 11. Juli 2021 stattfand. Als in Camagüey die elektrische Versorgung dann tatsächlich mitten im Spiel ausfiel, sei die Stimmung gekippt.
Der 11. Juli. Seit den Morgenstunden hatten sich in der Innenstadt von Camagüey Grüppchen gebildet, die dann über eine intensive Werbung über Social Media anwuchsen. Eine besondere Rolle spielten dabei die Facebook-Gruppen "Revolíco", in Kuba eine Art Pendant zu den Ebay-Kleinanzeigen, in denen Cuentapropistas, also kleine Selbstständige, ihre Dienste und Produkte anbieten. In diesen stark frequentierten Foren hatte sich der Ton schon eine Tage vor dem 11. Juli deutlich verschärft, eine ausgeprägt regierungsfeindliche Haltung herrschte vor. Dennoch waren alle davon überrascht, wie vehement und militant sich die Unzufriedenheit letztlich auf der Straße äußerte. In Camagüey zog eine Menge von fast 1000 Personen in Richtung der Provinzregierung. Etwa ein Viertel der Demonstranten bewaffneten sich mit Steinen und Knüppeln. Über die Sozialen Netzwerke wurde angekündigt, den örtlichen Parteisekretär zu entführen. Etwa 100 Revolutionäre hatten sich zum Schutz des Regierungsgebäudes versammelt, dazu eine Handvoll Streifenpolizisten, um die anstürmenden Randalierer aufzuhalten. Erst, als ein erster Streifenpolizist durch Steinwürfe schwer verletzt worden war, erschien eine Brigade der Bereitschaftspolizei und brachte die Lage innerhalb weniger Minuten mit den bloßen Händen (und gezielten Kampfkunstgriffen) unter Kontrolle. Noch fünf Monate später waren meine Gesprächspartner, die mir dergleichen berichteten, von der Gewaltbereitschaft der Angreifer sichtlich geschockt.
Von einem Anwalt, der mehrere der Angreifer verteidigt hatte, erfuhr ich, dass keiner der 19 Angeklagten seine Taten im Nachhinein gerechtfertigt hätte. Sogar die Täter selbst schienen von den Vorkommnissen im Nachhinein verstört.
Aus diesem Grund war ich Feuer und Flamme, als mich die Ankündigung für einen "Marsch zur Bekräftigung des Bekenntnisses zur Revolution" zum Jahresende erreichte. Da wollte ich hin, natürlich. Und kaum hatte ich den Gedanken geäußert, war ich als ausländischer Ehrengast fest eingeplant. Treffpunkt 6:00 Uhr morgens irgendwo in der Nähe der Plaza Agramonte. Das war nur wenige hundert Meter von meiner Schlafstatt entfernt, aber eine individuelle Anreise wäre, so entschied man, nicht angemessen. So wurde mit mir eine Abholung im Lada für 5:45 Uhr im Morgengrauen vereinbart. Früh, aber nicht früh genug, wie sich zeigte, denn in den Bereichen um den Versammlungsort war für den Autoverkehr bereits kein Durchkommen mehr. Sehnsüchtig schaute ich den Scharen von Fußgängern hinterher, die uns überholten. Schließlich entließ mich der Lada mit reichlicher Verspätung direkt in die Arme des ICAP-Verantwortlichen. Eine kurze Begrüßung, geäußertes Bedauern, dass man keine schwarzrotgoldene Fahne für mich habe auftreiben können (um Himmels Willen). Ob ich bereit wäre, die Fahne Guineas zu tragen, die gäbe es (nichts lieber als das). Unser internationaler Block stand fast an der Spitze der Demo, etwa zweihundert Meter von den Aufbauten auf der Plaza entfernt. Aus den Lautsprechern ertönte die kubanische Hymne, und wir marschierten die zweihundert Meter bis zu Tribüne, auf der wir Platz mit Blick auf die vorbeiziehenden Demonstrierenden einnahmen. Der Marsch war nach Betriebszentren aufgeteilt, beginnend mit den Beschäftigten aus dem Gesundheitsbereich, dann Tourismus, Stahlindustrie, Lebensmittelherstellung und so weiter. Auffallend, mit welcher Euphorie die Manifestanten auf die Ankündigung ihres Betriebes durch die Sprecherinnen und Sprecher reagierten. "Viva Cuba, Viva Fidel, Viva Díaz Canel" allerorten, manchmal auch ein "Aquí no se rinde nadié"- "Hier ergibt sich niemand". In Stimmung geriet die Menge, wenn aus den Lautsprechern die Ansage schallte: "El que no salta, ¡es yanqui!" – Wer nicht hüpft, ist Yankee! Wenn ich nicht gerade auf und nieder hüpfte, schwenkte ich zu alledem unentwegt die Fahne Guineas. Nun, ich gebe zu, dass ich mich gelegentlich erkundigte, wie lange die Veranstaltung denn noch gehen möge. Denn sie ging lang. Über zwei Stunden zog der Menschenstrom an unserer Tribüne vorbei. Die Schätzungen schwankten zwischen siebzig- und einhundertausend Personen. Für eine Stadt mit 300.000 Einwohnern kein schlechter Wert. Als ich die Fahne Guineas eingerollt und abgegeben hatte und sich die Camagüeyaner auf der Straße schon in Neujahrsstimmung plauderten und tranken, fand ich Zeit für eine erste Bilanz: In Kuba mag sich viel verändert haben, und die Narben von Blockade, Pandemie und Konterrevolution sind unübersichtlich. Leicht bitter, aber verständlich. Die Kampfeslust der kubanischen Bevölkerung zu erleben, war jedoch auf der anderen Seite ein süßes Erlebnis wie eh und je. Wenn es ein Volk schafft, der längsten Blockade der Geschichte zu widerstehen, dann dieses. Und während ich derlei bei mir dachte, ertappte ich mich dabei, vergnügt zu hüpfen.
Tobias Kriele
CUBA LIBRE 2-2022